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Dieses Buch behandelt sensible und potenziell belastende Themen, darunter Tod, Krankheiten, Krieg, Gewalt, Folter, Übergriffigkeit, Manipulation und Trauma.
Diese Inhalte können starke emotionale Reaktionen hervorrufen. Falls du mit einem dieser Themen persönliche Erfahrungen gemacht hast oder dich unwohl fühlst, nimm dir die Zeit, auf dich selbst zu achten. Es ist vollkommen in Ordnung, eine Pause einzulegen oder Unterstützung zu suchen.
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Pass gut auf dich auf.
Mein schlimmster Albtraum ist heute Wirklichkeit geworden. Ausgerechnet an meinem Geburtstag. Schluchzend knie ich nieder und blicke auf den reglosen Körper meines Bruders hinunter. Die Kälte seines blassen Gesichts dringt bis in mein Herz.
»Es tut mir so leid«, flüstere ich heiser, unfähig, die Tränen zurückzuhalten. »Ich konnte keinem von euch nicht helfen.« Meine Stimme ist kaum mehr als ein Hauch. Die Pest hat mir alles genommen. Meine Familie, mein Zuhause, meinen Glauben an das Leben. Alles, außer mich. Doch wie lange dauert es noch? Irgendwann wird es auch mich treffen. Und ich weiß, wenn es so weit ist, wird niemand mehr da sein, um mich zu betrauern. Meine entstellte Leiche wird im Wald zurückgelassen werden, vergessen und unbemerkt. Dieser Tag wird kommen. Und vielleicht ... vielleicht wünsche ich mir sogar, dass er schneller kommt, als ich es jemals zugeben könnte. Denn ich kann nicht mehr.
Mit zitternden Händen lege ich Leonardos schwere, leblose Gestalt sanft auf den Boden, nachdem ich ihn hinter mir hergezogen habe. »Leonardo«, flüstere ich und meine Stimme bricht, »grüß Mama, Papa und Xaden von mir. Ich liebe euch alle.« Die Worte klingen wie ein Gebet, ein letztes Versprechen, bevor die Dunkelheit über mich hereinbricht. Mein Körper gibt der Trauer nach. Der Schmerz ist kaum mehr auszuhalten.
Es begann bei uns alles vor vier Jahren. Die Hoffnungslosigkeit.
Die Pest war schon lange ein ständiger Begleiter unserer Tage, ein lautloser Feind, der das Dorf langsam verschlang. Doch als mein Vater erkrankte, nahm das Unheil endgültig seinen Lauf. Ich erinnere mich noch daran, wie wir Kinder draußen spielten, unbeschwert und ahnungslos, bis die Schreie unserer Mutter alles verstummen ließen. Der Körper meines Vaters war übersät mit rötlichen Flecken, die sich wie ein finsterer Fluch ausbreiteten.
Zuerst dachten wir, es sei etwas Harmloses, aber wir wussten es besser. Wir alle wussten es. Es war die Pest, die seit meiner Geburt Leben um Leben forderte. Keiner entkam ihr, und niemand konnte gerettet werden. Die Infektion bedeutete den sicheren Tod. Ich erinnere mich daran, wie meine Mutter weinte, als sie seine kalte Stirn berührte, wie ihr Flüstern durch das Haus hallte: »Es tut mir leid.« Diese Worte habe ich seither nie mehr vergessen. Nun sind sie auch meine geworden.
»Wären wir doch nur fortgegangen ...«, schluchze ich, während meine Hände zittern und mein Herz so fest in meiner Brust schlägt, dass ich glaube, es könnte daran zerbrechen. »Hätten wir nur unser Leben zurückgelassen, dann hätten wir vielleicht überlebt.« Doch wir blieben. Zu lange. Zu starr vor Angst und zu naiv, um die nötige Reise zu wagen.
Nach meinem Vater folgte meine Mutter, die genauso qualvoll starb. Ihre Schreie haben die Wände unseres kleinen Hauses durchdrungen und mich seither nie verlassen. Dann war Xaden dran, mein ältester Bruder und Beschützer. Kurze Zeit später nun Leonardo. Mein Leonardo, der immer an meiner Seite war. Ich habe sie alle Stück für Stück verloren. Ich weiß nicht, wie ich das überstehen soll. Der Tod hat meine Familie geholt, doch ich bleibe noch allein zurück. Dieses Gefühl fühlt sich schrecklich an. Den Tod meiner Liebsten muss ich jetzt zum vierten Mal durchleben. Jedes Mal ist es dieselbe qualvolle Hölle. Dieselben entstellten Leichen, deren Haut wie verbrannt aussieht, zerfressen von etwas, dass niemand begreifen kann. Der Tod umgibt mich wie eine allgegenwärtige Dunkelheit.
Erschöpft versuche ich mich aufzurichten. Meine Arme geben nach und ich sinke wieder in den kalten, feuchten Boden zurück. Ich kann Leonardos reglosen Körper nicht mehr ansehen, ohne dass es sich anfühlt, als würde ich innerlich zerbrechen. Er verdient ein Grab. Genau wie der Rest meiner Familie. Tief im Wald, an einem friedlichen Ort, wo ein kleiner Bach fließt und die Bäume leise rauschen. Vielleicht sollte ich auch gleich mein eigenes Grab schaufeln? Wer sonst würde es tun?
»Es wird nicht mehr lange dauern«, flüstere ich, während sich die Tränen wie Lava über mein Gesicht brennen. »Ich komme zu bald euch. Wir werden wieder zusammen sein, oder?« Meine Brust schmerzt unter der Last der Einsamkeit. »Ich hasse es, ohne euch zu leben. Wieso musste ich bleiben? Warum traf es mich nicht zuerst? Gott, bitte ... bitte hol mich zu ihnen.« Meine Worte verschmelzen mit meinem Schluchzen, ein klägliches Gebet, das sich in der leeren Luft verliert.
Mit der Schaufel drücke ich in den schweren, matschigen Boden. Die Erde ist nass und widerstandsfähig, so wie das Leben, das ich hinter mir lassen möchte. »Was soll ich mit unseren Tieren machen?« Ich werfe kurz einen verstohlenen Blick in Richtung der Kühe, Schafe und Hühner, die in der Ferne wie Schatten wirken. »Sie brauchen doch etwas zu essen ... sie können doch nicht verhungern!« Ein Wimmern kommt aus meinem Innersten. Vielleicht sollte ich den Zaun öffnen, bevor es vorbei ist? Sie könnten frei sein. Leben, wo ich es nicht mehr kann. »Das macht doch Sinn, oder Leonardo? Sag doch etwas!« Meine Worte hallen zwischen den Bäumen wider, aber nur die Stille antwortet mir. Dieselbe Stille, die mich schon seit Jahren begleitet.
Es ist immer derselbe Ablauf. Nach meinem ersten Nervenzusammenbruch, wo ich mir die Seele aus dem Leib geweint habe, fasse ich endlich den Mut, Leonardos schweren Körper auf meine Schultern zu heben. Jeder Schritt durch den Wald schmerzvoll. Meine Muskeln brennen, aber ich gebe nicht auf. Er soll nicht hierbleiben. Die Krankheit hat ihm das Leben genommen, aber sie wird nicht auch noch seine Würde nehmen.
Meine Familie hatte immer Angst davor, sich anzustecken, wenn sie die Toten berührten. Ich bin da aber anderer Meinung. Es war mir immer gleichgültig gewesen. Ich habe ihre Hände gehalten, ihre kalten Körper umarmt, als ob ich mir so einen letzten Funken Trost schenken könnte.
Ich grabe immer weiter. Die Schaufel bohrt sich in die Erde, während mich der Schmerz fast ohnmächtig werden lässt. Die Welt verschwimmt vor meinen Augen, doch ich grabe weiter. Schließlich lasse ich die Schaufel fallen und starre in das Loch, das ich geschaffen habe. Der Mut, mich nun zu verabschieden, kommt langsam, als ob er sich seinen Weg durch den Nebel meines Geistes bahnen müsste.
»Ich liebe dich, Leonardo. Grüß die anderen von mir.«
Dieses Mal wartet niemand mehr auf mich. Niemand, der mir mein Essen hinstellt oder meine Tränen abwischt. Niemand, der mich mit zitternden Armen umarmt, weil wir uns wenigstens noch gegenseitig hatten. Es ist nur noch die verzweifelte Stille. Ich weiß, sie wird bleiben, bis auch mich die Krankheit einholt. Und das wird sie. Bald.
»Wer hat mich gerufen? Ja, das warst du! Wer hat mich geschlagen? Ja, das warst du! Mama, was soll ich sagen? Nicht mein Bruder hat mich geschlagen.« Schwach lächelnd summe ich die Worte vor mich hin, während die Erinnerungen an unsere Kindheit über mich hereinbrechen. Leonardo hat dieses Lied immer gesungen, bevor er starb.
Es war eigentlich mein Lied, ein alberner Vers, den ich mit vier Jahren erfunden hatte. Wir drei – Leonardo, Xaden und ich – hatten uns oft geprügelt, worauf unsere Mutter jedes Mal furchtbar wütend war. Um sie zu beruhigen, erfanden wir dieses Lied und sangen es mit gespielter Unschuld. Es funktionierte fast jedes Mal.
»Oh, Schmerzen habe ich nicht. Mach dir keine Sorgen um mich, denn mein Bruder ist kein Bösewicht.« Die Worte kratzen in meiner Kehle, und mein schwaches Lächeln verblasst immer mehr. Diese Erinnerungen, so bittersüß sie auch sind, reißen mein Herz nur noch weiter in Stücke. Die Welt ist so schrecklich ungerecht. Ich hasse die Pest, diese verfluchte Krankheit, die alles zerstört hat. Mein Dorf, meine Familie und mich gleich mit.
»Es wird Zeit sich zu verabschieden, Bruder«, flüstere ich leise, während die eisige Winterluft meine Haut brennen lässt. Ich zittere nicht nur vor Kälte, sondern auch vor Erschöpfung. Mein Nachtgewand ist dünn, viel zu dünn für diese klirrende Kälte, aber als Leonardo in der Nacht starb, hatte ich keine Zeit, mich noch umzuziehen. Alles ging so schnell, dass ich nur noch handeln konnte.
Ich werfe einen Blick auf seinen leblosen Körper und spüre, wie meine Kehle sich zuschnürt. »Du wirst mir fehlen, Leonardo«, flüstere ich mit bebender Stimme und greife nach seinen Schultern, um ihn in das Grab zu ziehen. Mit einem erschütternden Knacken landet sein Körper tief in der kalten Erde. Es ist, als würde dieser Moment die letzte Verbindung zu meinem Bruder endgültig kappen. Plötzlich sehe ich das Blut, das aus seinem Körper quillt und sich wie dunkle Tinte im Graben ausbreitet.
Mein Magen verkrampft sich augenblicklich und ich stolpere ein paar Schritte zurück, bis ich mich schließlich übergebe. Der saure Geschmack in meinem Mund ist nichts im Vergleich zu dem bitteren Kloß in meiner Seele. »Es tut mir leid, Leonardo«, hauche ich, während mir die Tränen übers Gesicht laufen. Ich will ihn nicht sehen. Nicht so. Der faulige Geruch, der von ihm ausgeht, schlägt mir entgegen und drängt mich, es schnell zu beenden.
Mit zitternden Händen greife ich zur Schaufel und beginne die Erde auf seinen Körper zu werfen. Die Geräusche des aufprallenden Drecks lassen meinen Körper jedes Mal zusammenzucken, aber ich höre nicht auf. Es muss vorbei sein. Es muss einfach.
Vor ein paar Tagen hatte ich ein kleines Schild aus Holz vorbereitet. Ein verzweifeltes Projekt, weil ich wusste, dass dieser Tag kommen würde. Seine Beschwerden waren immer schlimmer geworden und ich konnte es in seinen Augen erkennen. Nun stehe ich vor seinem Grab, mit der Schaufel in der Hand und starre auf die aufgeworfene Erde. »Ich hoffe, du hast Frieden gefunden, Leonardo« Meine Hände zittern so stark, dass ich sie kaum noch kontrollieren kann. Du bleibst immer in unseren Gedanken, Leonardo, steht auf dem Holzschild, das ich vor seinem Grab aufstelle. Mir fiel nichts Besseres ein. Die anderen Optionen stehen schon auf den anderen Gräbern.
Der Regen wird stärker, doch ich spüre ihn kaum. Ich sinke auf den matschigen Untergrund neben dem Grab. Der Schlamm durchweicht mein Nachtgewand, aber das alles bedeutet nichts. Die Einsamkeit trifft mich, wie ein scharfer Schlag.
Ich frage mich, wie lange es noch dauern wird, bis auch ich die ersten Symptome bekomme. Es gibt so wenig Wissen über diese Krankheit. Was ich weiß, ist, dass Tiere nicht betroffen sind. Der menschliche Körper jedoch zeigt früh nur harmlose, rötliche Flecken, die sich im Laufe der Zeit verschlimmern. Bei den einen dauert es Jahre, bei den anderen nur Monate. Die Haut entzündet sich, wird wund und platzt auf, als hätte man sich verbrannt.
Mit unerträglichen Schmerzen stirbt man dann, erlöst von dem Leiden. Am schlimmsten ist es, wenn die Sonne auf einen scheint. Mein Bruder hat immer vor Schmerzen geschrien, als er Eier aus dem Garten holen wollte. Diese paar Schritte, die er gehen musste, haben ihn sofort völlig ausgelaugt. Deshalb konnte er nie wieder raus, wenn die Sonne gescheint hat. Er hatte es so sehr gehasst. Eine Träne läuft meine Wange hinunter. Ich wische sie erschöpft mit dem Handrücken ab.
Es war so schwer, meine Familie so leiden zu sehen. Ich wollte ihnen immer helfen, wollte den Schmerz wegnehmen, aber es ging nicht. Nichts half ihnen. Die Besuche bei den Heilern, die endlosen Nachforschungen in alten Büchern – alles brachte nichts. Teure Kräuter, die magische Heilkräfte haben sollten, hatten keinen Effekt.
Ich arbeitete Monate, um sie zu kaufen, aber es war alles vergebens. Diese Krankheit wurde auch als Strafe von Gott bezeichnet. Manche waren der Meinung, dass Gott diese Insel auslöschen möchte. Damals habe ich sie für verrückt gehalten, doch mittlerweile stimme ich ihnen zu.
Über mir glitzern die Sterne, die sich zwischen den grauen Wolken befinden. Ich kann meinen Blick nicht von ihnen abwenden. Wie oft hatte ich früher mit Xaden zusammen die Sterne gezählt? Damals, als alles noch einfach war. Als ich noch Kind sein durfte. Ab siebenundzwanzig konnte ich nicht mehr weiterzählen. Ich vertauschte die Zahlen, brachte alles durcheinander und Xaden lachte dann, zählte geduldig mit mir von vorn.
Deshalb hörten wir immer bei siebenundzwanzig auf. Jeden Abend, ohne Ausnahme. Es wurde unser kleines Ritual. Auch heute noch stoppe ich bei siebenundzwanzig, selbst wenn ich längst weiß, wie die Zahlen weitergehen. Es fühlt sich so an, als wäre Xaden noch hier bei mir.
»Eins, zwei, drei ...«, beginne ich zu zählen, laut genug, dass der Wind die Worte mitnimmt. Der Regen schlägt mir ins Gesicht und die Tropfen lassen meine Augen jedes Mal blinzeln.
»Fünfundzwanzig, sechsundzwanzig, siebe-« Ein lautes Knallen zerreißt die Stille der Nacht. Ein greller Lichtstrahl schießt durch die Dunkelheit, nur einen Moment und dann verschwindet es wieder. Der Knall kam aus dem Wald direkt neben mir. Reflexartig stehe ich auf und greife nach der Schaufel. Meine Schwerter liegen zuhause, aber die Schaufel wird genügen müssen. Ein dummer Fehler, der mir jetzt klar wird. »Wer ist da? Wer befindet sich im Wald?«, rufe ich in die Dunkelheit hinein. Seit Jahren war hier niemand mehr, denn seit der Pest hat dieses Dorf niemand mehr betreten. Die Insel ist komplett leer.
Mit schnellen Schritten laufe ich in die Richtung, aus der das Licht kam. Der Vollmond beleuchtet den Wald gerade so weit, dass ich die Silhouetten der Bäume erkennen kann. »Hallo?«, rufe ich erneut, doch wieder bleibt es still. Dann höre ich ein leises Piepen, kaum lauter als ein Insektensummen. Es folgt noch eins. Das Geräusch scheint von unten zu kommen. Ich lasse meinen Blick über den Boden schweifen, bis ich etwas Ungewöhnliches entdecke. Etwas Helles, das sich von der Dunkelheit des Waldbodens abhebt.
Langsam lasse ich die Schaufel sinken und knie mich hin. Vor mir liegt ein großes, geöffnetes Ei. Ich runzle die Stirn. Es ist zu groß, um von einer meiner Hennen zu stammen. Als ich näherkomme, spüre ich plötzlich warme Luft an meiner Hand. Es ist ein merkwürdiges Gefühl.
»Wow!«, rufe ich erschrocken, als ich sehe, was direkt vor mir liegt. Mit einem Ruck stolpere ich zurück und falle auf meinen Hintern. Vor mir liegt ein Tier, direkt neben dem geöffneten Ei. Es bewegt sich schwach und piept leise, seine glänzenden Augen sind auf mich gerichtet. Es sieht aus wie ein Vogel, zumindest hat es Flügel, aber ich habe so etwas noch nie gesehen. Seine kleinen Flügel zittern leicht, während es mich aufmerksam beobachtet. »Du warst das vorhin?«, frage ich laut und starre das Wesen an. Es antwortet natürlich nicht, doch ein weiteres Piepen entweicht seiner Kehle. Das Tier liegt erschöpft neben dem Ei. Es muss gerade erst geschlüpft sein. Vielleicht ist seine Mutter in der Nähe?
Unsicher beuge ich mich vor. Es scheint mich nicht anzugreifen, aber ich kann nicht einschätzen, ob es ungefährlich ist. Noch ein Piepen. Langsam strecke ich eine Hand aus, doch halte inne. Sollte ich es überhaupt anfassen? Es wirkt so zerbrechlich und hilflos. Mein Kopf sagt mir, ich soll es hierlassen. Seine Mutter wird es bestimmt suchen. Doch ein leiser Zweifel bleibt trotzdem. Was, wenn sie längst tot ist und dieses kleine Wesen niemanden mehr hat? Genau wie ich.
»Was mache ich jetzt nur mit dir?«, murmele ich und starre es an, während es mich weiterhin reglos beobachtet. Schnell rappele ich mich auf, greife nach der Schaufel und schüttle den Gedanken an das Wesen ab. Das ist die Natur, sage ich mir. Ich darf mich nicht einmischen. Meine Kehle ist wie zugeschnürt, doch ich zwinge mich, ohne einen weiteren Blick zurück zum Haus zu laufen.
Der kalte Wind peitscht mir ins Gesicht, während der Regen sich in jede Faser meines dünnen Nachtgewandes bohrt. Meine Muskeln sind taub von der Kälte, mein Hals schmerzt vom ständigen Einatmen des eisigen Windes. Hinter mir höre ich das leise, aber eindringliche Piepen des Wesens, das mich beinahe verfolgt.
Doch ich ignoriere es, so gut ich kann.
Als ich endlich die Tür hinter mir schließe, sacke ich auf den Boden. Ich wollte mich nur umziehen, mich wärmen. Aber kaum hatte ich den nassen Stoff abgestreift, übermannte mich die Erschöpfung und ich fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
*
Die Lichtstrahlen am Morgen reißen mich aus meinen wirren Träumen. Mein ganzer Körper fühlt sich schwer an, als wäre ich aus einem jahrhundertelangen Schlaf erwacht. Die Bilder aus der Nacht verfolgen mich noch immer. Albträume, die mit gnadenloser Klarheit die Tode meiner Familie vor Augen führten. Ich sah jeden einzelnen von ihnen wieder sterben, hörte ihr Wimmern, ihre Schreie. Das Grauen packt mich und drückt mir die Luft aus der Brust. »Reiß dich zusammen«, murmele ich leise, während ich mich mühsam anziehe.
Der Tag hat begonnen und ich kann nicht zulassen, dass diese Erinnerungen mich ersticken. Bevor ich das Haus verlasse, pflücke ich die verwelkten Blumen aus dem Garten. Sie sind nicht schön, aber das ist mir egal. Es ist alles, was ich noch habe.
Die kalte Luft schlägt mir ins Gesicht, als ich die Gräber erreiche, doch diesmal empfinde ich sie als angenehm. Ich fülle meine Lungen, lasse die Frische mich ein wenig beleben. Der Boden ist immer noch nass vom Regen, meine Schuhe weichen sofort durch, aber ich nehme es hin. Es spielt keine Rolle.
»Guten Morgen«, sage ich mit einem schwachen Lächeln, als ich die Gräber erreiche. Sanft lege ich jedem ein paar Blumen hin. »Wie geht es euch heute? Mir? Mir geht es furchtbar«, sage ich, während ein bitteres Lachen meine Stimme durchbricht.
»Aber macht euch keine Sorgen, es ist alles in Ordnung. Schließlich bin ich trotzdem hier, bei euch.« Ich schließe die Augen und atme tief ein, summend. Es fühlt sich so an, als wären sie noch hier, als würden sie mich sehen. Ich kann sie nicht sehen, aber ich weiß, dass sie da sind. Irgendwo.
»Gestern bin ich fünfzehn geworden«, murmle ich, fast beiläufig. Meine Gedanken wandern zurück zu einer Zeit, die so weit entfernt scheint, dass ich sie kaum noch greifen kann. Die Jahre vor der Pest, als das Leben ... lebenswert war. Die Schule, die einfachen Tage mit meiner Familie. Ich hatte nie Freunde, aber ich brauchte auch keine. Meine Familie reichte mir vollkommen. Doch diese Welt existiert nicht mehr. Die Schule hat geschlossen, weil keine Kinder mehr hier sind. Alle Familien sind gegangen, geflohen vor der Krankheit, die sie dennoch irgendwann einholen würde. Nur wir blieben zurück. Zu spät, zu lang.
Als die Nacht hereinbricht, zwinge ich mich, die Gräber zu verlassen. Mein Magen ist leer, aber das spielt keine Rolle. Hunger ist ein Gefühl, das ich längst verdrängt habe, zusammen mit so vielen anderen Bedürfnissen. Auf dem Weg höre ich es wieder.
Ein Geräusch, so bekannt und doch unerwartet. Das Piepen. Mein Herz setzt einen Schlag aus. Es ist leiser, schwächer als gestern, aber unverkennbar. Mit einem Mal zieht mich eine unbändige Neugierde zurück zu der Stelle, die ich gestern widerwillig verlassen hatte.
Das Wesen liegt immer noch dort, neben dem geöffneten Ei. Es hat sich verändert und ist größer geworden, aber es sieht erschöpft und schwach aus. Sein Körper ist noch immer durchnässt vom gestrigen Regen und die Flügel wirken schwer, fast leblos. Als ich nähertrete, hebt es den Kopf. Seine rötlichen Augen fixieren mich mit einem durchdringenden Blick, der mich erschaudern lässt. Die Augen verengen sich und ich kann nicht sagen, ob sie Wut oder Angst ausdrücken.
»Du ... du bist immer noch hier?«, frage ich, mehr zu mir selbst als zu ihm. Es antwortet nicht, nur ein schwaches Piepen entweicht seinem Schnabel. Ein Moment vergeht, in dem wir uns einfach nur anstarren. Es sieht mich an, als wüsste es genau, dass ich es gestern im Stich gelassen habe. Sein Blick bohrt sich in mich, und eine Welle von Schuld überkommt mich.
Ich schlucke hart und blicke mich um. Wo ist seine Mutter? Warum ist sie nicht zurückgekommen? Doch nichts regt sich in der Dunkelheit. Kein Laut außer dem Piepen des Wesens und dem leisen Rascheln der Blätter. »Was soll ich nur mit dir machen?«, murmele ich und knie mich langsam hin. Mein Herz rast, meine Gedanken überschlagen sich. Kann ich es einfach hierlassen? Es ist nicht meine Aufgabe, sage ich mir. Es ist nicht meine Schuld.
Aber als ich in diese Augen sehe, die mir so vertraut und doch so fremd vorkommen, weiß ich, dass ich keine Wahl habe. Langsam kriecht das schlechte Gewissen in meine Brust, zieht sich zusammen und lässt mich das zerbrechliche Wesen mit einem schweren Gefühl betrachten. Mein Blick bleibt auf ihm haften und obwohl mein Verstand schreit, mich nicht einzumischen, formen sich die Worte wie von selbst in meinem Mund: »Ich werde dir helfen. Aber nur, weil du irgendwie … süß bist. Auch wenn ich absolut keine Ahnung habe, was du bist.«
Zögerlich strecke ich meine Hand aus, meine Finger zittern leicht, während sie sich dem kleinen, verletzten Tier nähern. Doch plötzlich zuckt es zurück und bevor ich begreifen kann, was geschieht, ist es verschwunden. Einfach weg.
Mein Atem stockt und für einen Augenblick fühle ich mich, als hätte ich den Verstand verloren. »Habe ich mir das eingebildet?«, flüstere ich, während mein Blick ungläubig die Stelle absucht, an der es eben noch lag.
Mit einem vorsichtigen Zögern bewege ich meine Hand in die Leere, wo ich das Tier zuletzt gesehen habe. Meine Finger berühren plötzlich etwas winzige Federn. »Was …?« Mein Herz schlägt schneller. Ich sehe nichts außer schlammigem Boden, doch das Gefühl ist eindeutig. Das Tier ist da, unsichtbar, aber irgendwie real. Als ich meine Hand reflexartig zurückziehe, höre ich ein leises Plumpsen, gefolgt von einem kurzen Piepsen. Und dann, als wäre nichts geschehen, taucht das Tier wieder vor meinen Augen auf.
Ich starre es fassungslos an, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. »Oh mein Gott! Ich werde verrückt«, murmle ich und blicke auf meine zittrigen Hände. Noch immer spüre ich die Wärme des kleinen Körpers, der eben noch in meinen Fingern lag.
Langsam strecke ich erneut die Hand aus, diesmal vorsichtiger. Das Tier piepst, beobachtet mich mit seinen glühend roten Augen und sticht plötzlich mit seinem Schnabel gegen meinen Finger. Ein stechender Schmerz fährt durch meine Haut. Wut schießt in mir hoch, heiß und impulsiv. »Du … du versuchst mir weh zu tun?«, frage ich, meine Stimme ein Zischen, während ich das Tier fassungslos anstarre. »Undankbar bist du auch noch!« Ohne weiter darüber nachzudenken, lasse ich das Wesen los und schüttle den Schmerz aus meiner Hand. »Sieh zu, wie du allein klarkommst. Viel Glück dabei, Kleiner.«
Frustriert richte ich mich auf und wende mich ab. Doch kaum habe ich einen Schritt gemacht, ertönt das Piepen erneut, lauter und fordernder als zuvor. Es schneidet durch die Dunkelheit wie ein verzweifelter Hilfeschrei, und für einen Moment bleibe ich stehen, unschlüssig. Ich schließe die Augen, atme tief durch und kämpfe mit mir selbst. Es ist nur ein komischer Vogel, sage ich mir, nichts weiter. Doch als ich mich wieder umdrehe und sehe, wie es schwach versucht aufzustehen, nur um immer wieder zurück auf den Boden zu sinken, löst sich ein Seufzen aus meiner Brust. Es braucht mich.
»Na schön«, murmele ich und gehe zurück. Mit einem vorsichtigen Griff hebe ich das kleine Tier auf, spüre sein Zittern in meinen Händen, während es weiterhin piepst.
»Guten Abend, Twills«, sage ich leise, als ich die Hütte erreiche und meine Kuh anschaue. »Wir brauchen Milch für den Kleinen. Und vielleicht suche ich auch noch ein paar Würmer. Was isst du überhaupt?« Ich starre auf das Wesen in meinen Händen, während ich mir die Frage stelle. Ist es überhaupt ein Vogel? Und selbst wenn, essen Vögel von Geburt an Würmer? Oder trinken sie zuerst Milch? Ich habe keine Ahnung. In der Schule habe ich das jedenfalls nicht gelernt.
Schulterzuckend greife ich nach einem Eimer, melke etwas Milch und sammele unterwegs ein paar Würmer ein, bevor ich zum Bach gehe, um das kleine Wesen zu reinigen. Das kalte Wasser lässt seine verschmutzten Federn glänzen und nachdem ich es abgetrocknet habe, wirkt es fast … normal.
»Du bist ab jetzt ein Vogel«, sage ich, mehr zu mir selbst als zu ihm. »Auch wenn du dich unsichtbar machen kannst, was absolut nicht normal ist.« Während ich es vorsichtig füttere, beobachte ich fasziniert, wie es immer wieder verschwindet. Es piepst laut, wenn ich ihm etwas reiche, und wird in meinen Händen unsichtbar. Doch die Wärme bleibt, ebenso wie das seltsame Gefühl von Federn unter meinen Fingern.
Nach einer Weile wird es ruhig. Der kleine Vogel, oder was auch immer es ist, schaut mich mit seinen glühend roten Augen still an. Kein Piepen mehr. »Eigentlich bist du ganz süß«, gebe ich leise zu, ein kleines Lächeln zuckend auf meinen Lippen. Mein Blick wandert zum Fenster, wo die Nacht still und frostig über die Landschaft liegt. »Heute Nacht darfst du hierbleiben«, sage ich zu ihm, »aber morgen … morgen verschwindest du wieder.«
Ayla Öztürk - AYOEZ
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