Triggerwarnung:

Dieses Buch behandelt sensible und potenziell belastende Themen, darunter häusliche Gewalt, psychische Gewalt, Gewalt, Tod, Krieg, detaillierte Darstellungen von Gewalt und Folter, Folter, Mord, Manipulation, Depressionen, Suizid und Suizidversuch.

Diese Inhalte können starke emotionale Reaktionen hervorrufen. Falls du mit einem dieser Themen persönliche Erfahrungen gemacht hast oder dich unwohl fühlst, nimm dir die Zeit, auf dich selbst zu achten. Es ist vollkommen in Ordnung, eine Pause einzulegen oder Unterstützung zu suchen.

Falls du Hilfe benötigst, wende dich bitte an Vertrauenspersonen oder professionelle Beratungsstellen.

Pass gut auf dich auf.


Kapitel 1: 

 »Du bist ein dummes Mädchen, ein kleines, nutzloses Kind, hätte ich dich doch nur weggegeben.«

    Immer wieder dieselben Worte, wie ein nie endender Refrain aus Gift, der sich in mein Innerstes frisst, bis es sich anfühlt, als würden unzählige scharfe Messer meine Haut durchbohren und mein Herz zerfetzen. Mein Atem geht stoßweise, ich ringe nach Luft, während meine kleinen Hände sich fest zu Fäusten ballen, so fest, dass die Fingernägel sich schmerzhaft in meine Handflächen graben.

    Es ist, als würde in mir etwas zerreißen, ein unsichtbarer Riss, der größer und größer wird, genährt von Wut, Schmerz und dieser unstillbaren, fast schon verzweifelten Sehnsucht nach einer Mutter, die mich lieben sollte, mich beschützen, mir zeigen, dass ich wertvoll bin. Doch sie tut es nicht, sie kann es nicht, und tief in mir weiß ich, sie wird es niemals tun.

  »Ich hasse dich auch, ich wünschte, du wärst nie meine Mama gewesen.« Meine Stimme überschlägt sich, sie klingt fremd, schrill, bricht mitten in den Worten, während mir die Tränen heiß in die Augen steigen und meinen Blick verschwimmen lassen.

       Ich drehe mich um, reiße mich von ihr los und renne los, die Treppen hinauf, weg von ihren zerschmetternden Worten, weg von dem süßlich-beißenden Geruch nach abgestandenem Alkohol und kaltem Zigarettenrauch, der wie eine unsichtbare Wolke um sie hängt und den ganzen Flur erfüllt.

  »Ich bin nicht dumm! Andriana ist nicht dumm.« Mit einem lauten, harten Knall schlage ich die Tür hinter mir zu, als könnte ich sie damit aussperren, meine Mutter, ihre Stimme, ihren Hass. Mein Herz hämmert wie wild in meiner Brust, während ich mich auf mein Bett werfe, den Kopf tief ins Kissen drücke und mir die Decke über den Kopf ziehe, so als wäre sie ein Schutzschild gegen all das, was mich von unten herauf verfolgt. Doch es hilft nicht, nichts hilft. Ihre Worte hallen nach, immer und immer wieder, wie ein Echo, das sich in meinem Kopf festsetzt und niemals verstummen will.

  Leise, kaum hörbar, beginne ich zu wimmern, die Stimme bricht mir weg, während ich mir mit der Decke die Ohren zuhalte. »Warum hasst sie mich so?« Die Frage liegt auf meiner Zunge, brennt in meiner Brust, und doch weiß ich, dass ich nicht zu laut sein darf, denn wenn sie hört, dass ich weine, wenn sie die Schwäche in meiner Stimme hört, dann wird sie kommen.

     Und wenn sie kommt, dann wird es wehtun, es wird immer wehtun. Ich habe Angst vor Mama. Ihre Wut ist unberechenbar, sie findet mich immer, egal wie sehr ich mich bemühe, brav zu sein, still zu sein, unsichtbar zu werden. Selbst wenn ich keinen Ton von mir gebe, selbst wenn ich mich so klein mache, dass ich kaum noch atmen kann, ihre Augen, trüb und leer, und doch voller Hass, finden mich trotzdem, wie kalte Suchlichter, die nie ruhen.

  Immer wieder sagt sie mir, dass ich wertlos sei, dass sie mich hasse, dass sie nichts sei. Und wenn Worte allein nicht mehr reichen, wenn sie nicht genug schmerzen, dann kommen die Flaschen, diese widerlich riechenden Getränke, die sie noch grausamer machen, als sie ohnehin schon ist. Wenn ich sie dabei störe, wenn ich es wage, in ihrer Nähe zu sein, wirft sie sie nach mir, manchmal verfehlt sie mich, manchmal nicht.

  Meine Hand hebt sich wie von selbst, tastet die linke Schulter, dort, wo die Narbe geblieben ist. Rau fühlt sie sich an, kalt und doch brennend, ein ständiges Andenken an jenen Abend, an dem sie so wütend und so betrunken war, dass ihre Hand nach einer Flasche griff und sie mit solcher Wucht nach mir schleuderte, dass das Glas zerbrach und meine Haut aufriss.

      Ich erinnere mich noch an das warme, klebrige Gefühl des Blutes, das in Strömen über meinen Körper rann, an den Schmerz, der so groß war, dass er mir die Sinne raubte. Wir gingen nicht ins Krankenhaus, das war keine Option. Stattdessen nähte sie die Wunde selbst, grob, hastig, die Hände unsicher und doch entschlossen, nicht, weil sie Angst um mich hatte, sondern weil sie Angst hatte, dass jemand es hätte bemerken können. Dass jemand sehen würde, was sie mir antut. Ich schlucke schwer, das Geheimnis brennt in meiner Kehle. Niemand darf es wissen. Niemand.

  »Verpiss dich aus meiner Wohnung, gleich kommt ein Kunde vorbei, und wenn er dich auch nur hört, haut er ab, also raus hier.« Ihre Stimme fährt wie ein Peitschenhieb durch die Wohnung, rau und voller Zorn, und in dem Moment zucke ich zusammen, so heftig, als hätte sie mich bereits geschlagen.

      Mein Herz stolpert, schlägt dann schneller, immer schneller, bis es mir die Brust zuschnürt, während mein Körper schon weiß, was zu tun ist. Ohne nachzudenken schwinge ich die Beine vom Bett, greife nach meinem Rucksack, der nie weit von mir entfernt liegt, und beginne, meine wenigen Sachen zusammenzuraffen. Es dauert nicht lange, ich habe darin Übung, zu oft schon musste ich in Sekunden verschwinden, wenn sie es verlangte, zu oft schon habe ich diese hastige Flucht geübt.    

      Meine Finger zittern, als ich den Reißverschluss schließe, ich will hier raus, sofort, denn ich spüre, wie sich Unruhe in mir ausbreitet, dieses beklemmende Gefühl, das mich jedes Mal überkommt, wenn sie Besuch von Männern bekommt.

  Ich weiß nicht genau, was sie mit diesen Männern tut, ich kann es mir nicht ausmalen, aber ich spüre, dass es etwas ist, worüber man nicht sprechen darf, etwas, das verboten ist, geheim, beschmutzend. Ich weiß, dass es mich nichts angeht, dass ich unsichtbar sein soll, dass ich nichts fragen darf, doch manchmal, wenn ich neugierig und unvorsichtig zugleich aus meinem Versteck spähe, sehe ich sie.

      Diese Männer. Ihre Gesichter, ihre Bewegungen, ihre Augen. Und jedes Mal fühle ich es, dieses unerklärliche Frösteln, das durch meinen Körper fährt, wenn ihre Blicke an mir hängen bleiben. Zu lang, zu fest, zu prüfend. Es ist, als würden sie mich mustern, nicht wie ein Kind, sondern wie etwas anderes, als wäre ich eine Ware, die sie in Gedanken bereits abwägen.

      Ich weiß nicht, warum sie so schauen, warum ihre Augen mich so durchdringen, aber es macht mir Angst, eine Angst, die mir das Blut in den Adern gefrieren lässt. Ich habe ihnen nie etwas getan, nie, und doch flackert in ihren Blicken etwas, das mich klein und verletzlich fühlen lässt.

  Also packe ich meinen Rucksack fester, ziehe ihn über die Schulter und gehe. Wie jedes Mal. Unten angekommen steht sie bereits da, als hätte sie nur auf mich gewartet. Ihr Körper ist kaum bedeckt von dem dünnen Stoff, den sie trägt, ein Kleid, das mehr enthüllt als verbirgt, und ich weiß, dass es ihr gleichgültig ist, wie sie aussieht. Ihre Haut, ihre Haltung, alles an ihr wirkt nicht von Scham gezeichnet, sondern von Abgestumpftheit, als wäre ihr das alles egal.

  »Komm heute Abend nicht mehr zurück, nach der Schule kannst du wiederkommen, falls du bis dahin nicht schon entführt worden bist.« Sie lallt die Worte, schwer vom Alkohol, und verzieht den Mund zu einem spöttischen Grinsen, als wäre es ein Witz.

      Doch es ist keiner, es ist nie einer. Ich presse die Lippen fest aufeinander, während der beißende Geruch von Alkohol die Luft erfüllt, süßlich, ekelhaft und schwer, so dicht, dass er sich in meine Kleidung frisst. Ihre Augen, glasig und leer, fixieren mich, und für den Bruchteil eines Augenblicks bilde ich mir ein, dass sie etwas anderes sagen will, etwas, das nicht voller Hass ist, vielleicht sogar etwas, das an Zuneigung erinnert. Doch dann schwankt sie, taumelt, macht einen Schritt nach vorne, verliert das Gleichgewicht und stürzt. Mit einem dumpfen Geräusch schlägt ihr Körper auf den Teppich.

  »Du verzogene Göre«, brüllt sie, während ihre Arme fahrig durch die Luft schlagen, als wolle sie nach mir greifen, mich fassen, mich halten. Ich warte nicht darauf, ob sie es schafft, sich wieder aufzurichten. Mein Körper reagiert schneller als mein Kopf, instinktiv, gejagt von der Angst, die mich antreibt. Ich drehe mich um, reiße die Tür auf und laufe hinaus, so schnell, dass meine Füße kaum den Boden berühren.

  Draußen schlägt mir die Nachtluft entgegen, kalt und feucht, sie kriecht durch die dünne Kleidung, legt sich wie eisige Finger um meine Arme und dringt in jede Pore. Ich atme tief ein, keuchend, der Geruch von nassem Asphalt und Regen umhüllt mich, schwer und fremd und doch vertraut, denn er ist das, was mich empfängt, wann immer ich fliehen muss.

      Es ist ein anderes Zuhause, nicht wärmer, nicht liebevoller, aber zumindest ehrlicher, unerbittlich und ungeschönt. Seufzend setze ich einen Fuß vor den anderen, Schritt für Schritt über den Bürgersteig, ohne zu wissen, wohin er mich führen wird.

      Meine Beine fühlen sich schwer an, als würden Gewichte an ihnen hängen, meine Lider brennen, müde vom Weinen. Kleine Tränen lösen sich, fallen lautlos auf meine Jacke und hinterlassen dunkle Flecken, die die Kälte nur noch größer machen. Ich bin müde, so unendlich müde. Alles, was ich will, ist schlafen. Nur schlafen.

*

  Ich weiß nicht, wie lange ich schon laufe. Die Nacht fühlt sich endlos an, ein dunkler Schleier, der sich über die Stadt legt. Meine Füße tun weh, aber ich bleibe in Bewegung, Schritt für Schritt. Die Straßen wirken vertraut, als hätte ich diesen Weg schon unzählige Male genommen, in Gedanken, in Träumen, in stillen Sehnsüchten.

      Bald müsste es auftauchen, das große Gebäude, das städtische Kinderheim. Ich weiß nicht, warum ich hierhergekommen bin, vielleicht, weil es der einzige Ort ist, von dem ich mir vorstelle, dass er anders sein könnte, besser, sicherer, oder vielleicht genauso schlimm.

  Ich bleibe davor stehen. Das Heim ragt vor mir auf, düster und stumm. Die Fenster sind dunkel, die Welt dahinter verborgen. Ich starre es einfach nur an. Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich hier großgeworden wäre? Wäre ich glücklicher? Oder würde ich trotzdem hier stehen, mitten in der Nacht, mit leeren Händen und einem Herzen, das sich anfühlt, als wäre es viel zu alt für meinen Körper?

       Ein Windhauch streift meine Wange. Ich fröstele, aber ich bewege mich nicht. An die Kälte werde ich mich gewöhnen müssen, ich habe keine andere Wahl.

  Die meiste Zeit verbringe ich draußen, weil ich es zuhause nicht aushalte. Die Enge der Wohnung, der beißende Geruch von Alkohol, die Angst, all das drückt schwerer auf mich als die eisige Nachtluft. Oft schlafe ich auf Parkbänken. Sie sind unbequem, hart, aber besser als der Boden. Die Lehne gibt mir das Gefühl, dass mich wenigstens etwas schützt.

       Mein Rucksack wird jedes Mal zum Kissen, gefüllt mit den wenigen Dingen, die mir gehören. Ich habe gelernt, mich warm anzuziehen, mich in meine Jacke zu wickeln, meine Hände in die Ärmel zu ziehen, aber es reicht nicht. Die Kälte findet immer einen Weg. Meine Lehrer schimpfen oft mit mir, wenn ich krank zur Schule komme, sie sagen, ich solle besser auf mich aufpassen, mich richtig auskurieren, doch sie verstehen es nicht.

      Es ist nicht meine Schuld, ich tue, was ich kann. Aber egal, wie sehr ich mich einhülle, egal, wie sehr ich versuche, mich vor der Kälte zu schützen, ich werde trotzdem krank. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass es dieses Mal wieder so sein wird.

  Leicht beginne ich zu zittern. Die Kälte kriecht langsam unter meine Haut, wie ein unaufhörlicher Wind, der nicht nur meine Knochen, sondern auch mein Innerstes durchdringt. Ich setze mich auf die Steinmauer, lasse die Füße über den Boden baumeln und starre auf die dunkle Straße vor mir.

      Es gibt zwei Parks hier in der Nähe, ich überlege, welche Parkbank ich mir heute aussuchen soll. Die erste Option ist sicherer, die Umgebung ruhig, fast friedlich, doch der Park ist dunkel, keine Lampen, keine Lichter, die einen Schatten vertreiben könnten. Die zweite Option ist gefährlicher, Teenager hängen dort oft herum, mit lauten Stimmen und schrägen Blicken, der Park hat seine eigene düstere Atmosphäre, aber wenigstens gibt es Straßenlampen, die die Dunkelheit etwas erträglicher machen.

  Ich seufze und beobachte meine Beine, die in der Kälte leicht zittern und über dem Boden baumeln. Die Entscheidung fühlt sich schwer an. Was ist besser, das Risiko, im Dunkeln zu sitzen, oder das unangenehme Gefühl, von fremden Blicken beobachtet zu werden? Keiner der Orte fühlt sich wie ein sicherer Zufluchtsort an.

      Vielleicht finde ich ja einen neuen Ort, ein abgelegener, sicherer Platz, den ich noch nicht entdeckt habe, etwas, das nicht von der Kälte oder den dunklen Bänken gezeichnet ist. Aber es wird Zeit, loszugehen. Ich muss einen Schlafplatz finden, bevor es wirklich dunkel wird.

  Gerade als ich von der Mauer herunterspringen wollte, höre ich Schritte, leise, doch eindeutig. Ein Schaudern läuft mir den Rücken hinunter. Ich bleibe wie erstarrt stehen, meine Augen weiten sich, mein Herz beginnt zu rasen. Die Schritte kommen näher.

       Ein Gefühl von Unbehagen schleicht sich in meine Brust, mein Körper bereitet sich darauf vor, wegzulaufen. Doch ich bleibe reglos. Es könnte jemand Harmloses sein, vielleicht jemand, der einfach nur spät unterwegs ist. Ich halte den Atem an und lausche. Ich stehe, wie angewurzelt, als die Schritte näher kommen.

      Sie sind langsamer geworden, fast bedächtig, als wüsste derjenige, dass ich ihn bemerkt habe. Ein leises Knirschen des Schotters unter den Füßen verrät mir, dass der Fremde immer näher rückt. Ich halte den Atem an, doch statt eines Schattens, der sich mir nähert, taucht eine Figur vor mir auf.

  Ein Junge. Er ist älter und größer als ich, aber wirkt nicht wirklich bedrohlich. Er trägt eine abgetragene Lederjacke, deren Nähte fast schon aufgerissen sind, und eine Baseballmütze, die ihm tief ins Gesicht gezogen ist. Das Kinn mit leichtem Stoppelbart und die Augen, ernst, aber irgendwie von einer sanften Entschlossenheit geprägt.

       Seine Hände sind tief in die Jackentaschen vergraben, die Schultern hochgezogen. Und doch, als er mir in die Augen schaut, erkenne ich nichts Bedrohliches, obwohl er eine Haltung hat, die einen sofort an den Straßenjungen denken lässt.

  »Was machst du hier?«, fragt er, seine Stimme ist rau und trotzdem nicht schroff. Es klingt, als wolle er nur sicherstellen, dass ich nicht in Schwierigkeiten stecke, oder um herauszufinden, was ich hier zu suchen habe.

        Ich tue mich schwer, ihm zu antworten. Für einen Moment starrt er mich einfach nur an, seine Augen analysieren mich in einer Art, die mir unangenehm ist. Ich habe das Gefühl, dass er mich schon von weitem gesehen hat, dass er weiß, dass ich hier draußen allein bin. Und doch ist er ruhig, wartet auf eine Antwort, ohne mich zu drängen. Ich merke, wie mein Herz schneller schlägt, aber ich kann mich nicht bewegen.

  Er tritt einen Schritt näher, als würde er sicherstellen, dass ich nicht einfach abhaue. »Bist du verloren, oder was?«, fragt er dann, ein schiefes Lächeln auf den Lippen. Das ist kein ärgerliches Lächeln, es ist eher wie ein Versuch, die Situation irgendwie zu entkrampfen, als wollte er mir zeigen, dass ich nichts zu befürchten habe.

  »Du bist doch nicht von hier, oder?«, fügt er dann hinzu, als bemerke er mein Zögern und meine Unsicherheit. »Ich ... ich …«, stottere ich, als mir die richtigen Worte fehlen. Was soll ich ihm sagen? Dass ich schon lange nicht mehr irgendwo hingehöre? Dass ich einfach nur einen Platz brauche, an dem ich mich für eine Nacht verstecken kann?

       Er mustert mich einen Moment länger. Dann zuckt er mit den Schultern und sieht sich um, als überlege er sich, was er mit dieser Situation anfangen soll. Ein kurzer Blick auf den leeren Park, die dunklen Ecken der Straße, als wüsste er, dass die Gegend nicht unbedingt der beste Ort für ein kleines Mädchen ist, auch wenn er selbst ein Teil dieser Welt ist. Aber er tut nichts Bedrohliches.

  Stattdessen kommt er ein Stück näher und fragt mit einem fast fürsorglichen Unterton: »Weißt du, du solltest dich nicht so einfach hier rumtreiben, vor allem nicht um diese Uhrzeit. Wenn du hierbleibst, wird es gefährlich.

       Du kannst doch nicht einfach so auf den Straßen schlafen, ist doch klar, oder?« Er schüttelt den Kopf, aber nicht auf eine abwertende Weise. Eher wie jemand, der es leid ist, dass diese Welt solche Geschichten von Menschen wie mir erzählt.

     Es ist nicht so, dass er Mitleid mit mir hat, es ist eher, als wollte er mir die einfache Wahrheit sagen, ohne dass sie zu hart klingt. »Du bist noch viel zu jung, um hier rumzuhängen. Glaub mir, hier passiert immer irgendein Mist.«

  Ich blicke ihn unsicher an. Was soll ich tun? Was kann ich tun? Ich habe keine Ahnung, was er von mir will, aber ich spüre, dass er mir nicht wehtun wird. Er ist nicht wie die anderen Jungs, die ich hier ab und zu sehe, die mit rauen Gesten und scharfen Blicken die Straße regieren. Er ist ... anders. »Lauf jetzt lieber nach Hause, Kleines«, sagt er schließlich, als er mich noch einmal mit einem Blick mustert, der sich weich anfühlt.

     Vielleicht erkennt er in mir mehr als nur ein kleines Mädchen, das irgendwo gestrandet ist. Vielleicht sieht er einfach jemanden, der zu jung für diese Welt ist, um hier zu bleiben.

   Ich stehe noch einen Moment da, ohne zu wissen, was ich tun soll, als er plötzlich wieder einen Schritt auf mich zugeht. »Du kannst nicht hierbleiben«, sagt er noch einmal, seine Stimme ein wenig drängender, als wolle er sicherstellen, dass ich es wirklich verstehe.

       Doch plötzlich ändert sich etwas in seiner Haltung. Er merkt, dass ich nicht weiß, wohin ich gehen soll. »Ich weiß, wie das läuft. Komm, du kannst nicht einfach auf der Straße schlafen, vor allem nicht, wenn hier so viele Verrückte herumlaufen.«

      Ich nicke stumm, während er sich ein Stück zurückzieht und dabei in die Nacht schaut. Dann seufzt er und dreht sich zu mir. »Ich ... ich komm aus dem Heim«, sagt er plötzlich, als würde er mir ein Stück seiner Welt zeigen wollen, das er mit mir teilen möchte.

      »Weißt du, ich habe hier auch nicht viel, aber ... ich kenn die Straßen hier. Und die sind keine gute Nachtgesellschaft.« Ich bin überrascht, aber irgendwie auch beruhigt über seine schützende Art.

  »Du lebst im Heim?«, frage ich leise, meine Stimme klingt dünn und unsicher, als würde sie jeden Moment von der kalten Nachtluft verschluckt werden. Ich spüre, wie mein Herz schneller schlägt, während ich seine Reaktion abwarte, und gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass jede meiner Bewegungen, jeder Atemzug, beobachtet wird.

      Er nickt langsam, die Bewegung ist kaum mehr als ein Hauch, aber sie trägt eine gewisse Ruhe in sich, die mich merkwürdig beruhigt. »Ja, sie nennen mich Cole«, sagt er und zieht die Mütze leicht zurück, sodass ich zum ersten Mal sein Gesicht richtig sehen kann.

      Sein Blick trifft meinen, ernst und aufmerksam, und trotzdem liegt etwas Sanftes in seinen Augen, als würde er mehr erkennen, als er zeigen möchte. »Hast du schon mal darüber nachgedacht, dort zu bleiben?«

  Ich beiße mir auf die Lippe, meine Gedanken rennen durcheinander. Was soll ich sagen? Soll ich ihm erzählen, dass ich mich seit Monaten irgendwo hinsehne, wo ich wenigstens für eine Nacht nicht auf der harten Straße liegen muss? Soll ich zugeben, dass meine Mama mich immer wieder bedroht und dass ich einfach nur einen Ort suche, an dem ich nicht verfolgt werde von Angst und Einsamkeit?

      Meine Kehle fühlt sich eng an, die Worte bleiben beinahe stecken, doch schließlich entweichen sie: »Ich kann nicht im Heim leben, meine Mama würde mich umbringen.«

  Die Schwere dieser Worte lastet auf mir wie ein unsichtbarer Stein, der sich langsam in meine Brust gräbt und jede Bewegung erschwert. Ich spüre, wie meine Finger leicht zittern, als hätte ich das Gewicht der Welt selbst auf ihnen balanciert.

      Gleichzeitig ist es seltsam befreiend, dies laut auszusprechen, als ob ein Teil meiner Angst für einen Moment aus mir herausgleitet. Und obwohl Cole mich kaum kennt, habe ich das Gefühl, dass er versteht, ohne dass ich erklären müsste, warum ich Angst habe. Cole bleibt einen Moment still, seine Augen scheinen in die Ferne zu blicken, als würde er über Erinnerungen nachdenken, die er sonst niemandem zeigt.

      Dann nickt er langsam, beinahe bedächtig, und ich erkenne darin eine Mischung aus Verständnis und stillem Mitgefühl. Es ist, als hätte er in einem einzigen Blick begriffen, wie es ist, an einem Ort zu stehen, an dem man eigentlich nicht sein sollte.

  »Versteh ich«, murmelt er schließlich leise, fast so, als spräche er mehr zu sich selbst als zu mir, und dreht sich leicht weg, als würde er einen Moment lang in seine eigene Welt abtauchen, bevor er zurückkehrt, die Härte in seinen Augen wieder da, die ich zuvor schon wahrgenommen habe. Doch diesmal ist sie gemildert, fast vorsichtig.

      Statt Worte der Warnung oder der Strenge schaut er auf das Kinderheim und macht eine beiläufige Geste mit der Hand. »Das Heim ist nicht der beste Ort, das weiß ich. Aber es gibt einen Weg, wie du es trotzdem schaffen könntest.« Verwirrung überkommt mich.

     Mein Kopf fühlt sich schwer an, die Gedanken drehen sich wie ein Karussell, und ich weiß nicht, ob ich hoffen oder misstrauen soll. Was meint er damit? Wie kann jemand in dieser Situation wirklich helfen, ohne dass es schiefgeht?

  Dann spricht er weiter, seine Stimme fest, aber nicht unfreundlich: »Ich kann dich heimlich reinschmuggeln«, sagt er, und seine Worte hängen wie ein Versprechen in der kalten Luft zwischen uns. »Mein Zimmernachbar ist vor kurzem in eine Pflegefamilie gekommen. Sein Bett steht jetzt leer. Du könntest in seinem Bett schlafen, niemand würde es merken. Ich kenne mich hier aus, das würde klappen.«

       Für einen Moment steht die Welt still. Die Kälte, die Straßen, die Dunkelheit, alles verblasst ein wenig, während diese Möglichkeit vor mir auftaucht. Ein Teil von mir möchte aufspringen und ablehnen, als könnte ich mich durch bloßes Zurückschrecken vor der Gefahr schützen, aber ein anderer Teil, der erschöpft, hungrig und verzweifelt ist, sehnt sich nach dem einfachen Luxus eines Bettes, einer warmen Decke, einem Ort, an dem ich mich für eine Nacht sicher fühlen könnte. Auf der Straße zu schlafen, das ist kein Leben, denke ich, während sich ein kalter Schauer über meinen Rücken zieht. Kein Leben, das ich so weiterführen will.

  Mein Blick wandert zu den großen, düsteren Fenstern des Heims, deren Schwarz mich zugleich einschüchtert und seltsam anzieht. »Okay«, flüstere ich schließlich, die Stimme kaum mehr als ein Hauch, »ich komme mit.«

      Ein leises, zögerliches Ziehen in meinem Inneren bleibt, aber die Hoffnung auf ein paar Stunden Sicherheit überwiegt die Angst. Cole nickt mir zu, die Bewegung ruhig und entschlossen. Ohne ein weiteres Wort dreht er sich um und beginnt, den Weg zurück zum Gebäude zu gehen, seine Schritte leise auf dem Asphalt.

      Ich folge ihm, versuche, so unauffällig wie möglich zu bleiben, während mein Herz wie wild in meiner Brust hämmert. Jeder Schatten, jede Bewegung am Rande meines Blickfelds lässt mich zusammenzucken, doch ich bemühe mich, mir nichts anmerken zu lassen. Zusammen bewegen wir uns durch die Straßen, die Nacht umhüllt uns wie ein kalter Mantel, und doch fühle ich mich zum ersten Mal seit langem nicht ganz allein.

  Der Weg zum Heim zieht sich endlos in die Länge. Jede einzelne Bewegung fühlt sich schwerfällig an, als würden die dunklen Mauern selbst versuchen, mich zurückzuhalten.

      Ich spüre, wie mich ihre schiere Präsenz einengt, wie die Kälte der Nacht sich in meinen Nacken schleicht, doch ich folge Cole, dessen Schritte so leicht und sicher wirken, als würde er hier schon sein ganzes Leben lang umhergehen. Er kennt diesen Ort auf eine Weise, die mir beinahe unheimlich erscheint, seine Bewegungen sind flüssig, zielgerichtet und selbstsicher, als wäre jedes Knarren des Bodens, jeder Schatten vorausberechnet.

  Cole führt mich um den Gebäude-Komplex herum, die Ecken und dunklen Passagen wie ein vertrauter Pfad. Schließlich bleiben wir vor einem kleinen Seiteneingang stehen, der verlassen und fast vergessen wirkt. Keine Wachen patrouillieren hier, keine Kameras überwachen den Hof.

      Nur der blasse Schein einer fernen Lampe taucht die Umgebung in ein schwaches, unscharfes Licht, das die Dunkelheit der Nacht kaum durchdringt. Cole schaut sich kurz um, seine Augen fliegen wie prüfende Schatten über den Hof, bevor er die Hand in die Jackentasche steckt und einen kleinen Schlüssel hervorholt.

      Er öffnet die Tür mit einer leisen, präzisen Bewegung, als würde er etwas Verbotenes tun, und streckt mir die Hand hin, wortlos, aber mit der stillen Aufforderung, ihm zu vertrauen. »Komm schon«, flüstert er, die Stimme kaum mehr als ein Hauch in der Stille, »wir müssen schnell sein.« Ich schließe die Augen für einen Moment, atme tief ein und aus, als würde jeder Atemzug mir Kraft geben, mich dem Unbekannten zu stellen, das nun auf mich wartet.

  Als ich die Tür durchschreite, umfängt mich ein kühler, muffiger Geruch, der nach altem Holz, Staub und Jahren ungestörter Ruhe riecht. Es ist ein Duft, der die Zeit selbst zu konservieren scheint.

      Cole geht voraus, wir bewegen uns durch die dunklen Flure des Heims, wobei er geschickt jede Lichtquelle meidet und die leisen Geräusche unserer Schritte über das knarrende Holz geschickt dämpft. Die Schatten der Gänge scheinen sich zu bewegen, doch ich folge ihm stumm, gebannt von seiner Sicherheit. Schließlich erreichen wir einen schmalen Flur, der an seinem Ende von einer einzelnen Tür abgeschlossen wird.

      Hier bleibt Cole stehen, dreht sich zu mir und fixiert mich mit einem Blick, der keine Fragen zulässt. »Wenn du hier bist, darf niemand erfahren, dass du schläfst«, sagt er ernst. »Du wirst im Bett meines alten Zimmernachbarn schlafen. Morgen früh, noch bevor jemand aufwacht, schleichst du dich wieder hinaus. Hast du das verstanden?«

  Ich nicke, stumm, die Worte bleiben in meinem Hals stecken.

      Mein Herz hämmert wie wild, und obwohl ich ihn fragen könnte, warum er mir hilft oder was er davon hat, ist das gerade unwichtig. Viel zu verlockend ist die Aussicht auf ein Bett, eine Decke, einen Ort, an dem ich für ein paar Stunden vergessen kann, dass die Welt draußen gefährlich ist.

      Cole öffnet die Tür mit einem leisen Klick, und ich sehe das leere Bett in der Ecke. Es ist nicht groß oder besonders, aber es wirkt weich, ein kleines Stück Sicherheit in einer Welt, die mir seit langem keine Ruhe gönnt. Ich lasse meinen Rucksack auf den Boden sinken, ziehe die Jacke langsam aus und betrachte das Zimmer genauer.

     Zwei Schreibtische stehen an den Wände, dazu zwei einfache Stühle und natürlich die beiden Betten. Kein Luxus, keine extravaganten Dekorationen, aber genug, um mir das Gefühl zu geben, dass ich vielleicht, nur vielleicht, für einen Augenblick sicher sein kann.

  »Schlaf gut«, flüstert Cole, seine Stimme leise und fast zaghaft, während er sich auf den Stuhl an seinem Schreibtisch sinken lässt. Ich ziehe die Decke über mich, lege den Kopf auf das Kissen und spüre, wie die Anspannung aus meinen Schultern langsam entweicht.

       Für einen winzigen Moment scheint alles möglich, als könnte diese Nacht mir tatsächlich ein Stück Frieden schenken. »Gute Nacht, Cole«, murmele ich schließlich, meine Stimme kaum mehr als ein leiser Hauch, und drehe mich zur Wand.

     Ich schließe die Augen und lasse die Dunkelheit der Nacht über mich hinwegfließen, wie eine Decke, die mich für einen Moment von der Welt draußen abschirmt.

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