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Dieses Buch behandelt sensible und potenziell belastende Themen, darunter Suizid, sexueller Missbrauch, Drogen, Gewalt und Depressionen. Diese Inhalte können starke emotionale Reaktionen hervorrufen. Falls du mit einem dieser Themen persönliche Erfahrungen gemacht hast oder dich unwohl fühlst, nimm dir die Zeit, auf dich selbst zu achten. Es ist vollkommen in Ordnung, eine Pause einzulegen oder Unterstützung zu suchen.
Falls du Hilfe benötigst, wende dich bitte an Vertrauenspersonen oder professionelle Beratungsstellen.
Pass gut auf dich auf.
Sinville ist eine Stadt, die Bildung nicht nur schätzt, sondern regelrecht zelebriert. Sie ist weltweit für ihre akademischen Glanzleistungen bekannt, ein Zentrum des Wissens, wo kluge Köpfe aus aller Welt zusammenkommen, um zu forschen, zu lehren und zu lernen.
Für mich bedeutet das, dass ich regelmäßig von Dillimore, meinem Wohnort, nach Sinville pendle. Eine Routine, die ich liebgewonnen habe. Hier in Sinville unterrichte ich an verschiedenen Einrichtungen. Es sind manchmal kleine Universitäten, dann renommierte Hochschulen, bei staatlich geförderten Seminaren oder in privaten Bildungszentren. Überall dort, wo es möglich ist, mein Wissen weiterzugeben.
Ich habe es mir als Lebensaufgabe genommen, Menschen zu fördern, sie aufzuklären, ihnen neue Perspektiven zu eröffnen. Genau deshalb brenne ich für meinen Beruf, für die Psychologie, für die Möglichkeit, andere zu inspirieren und sie auf ihrem Weg zu begleiten. Und ich bin gut darin. Die Beste, um genau zu sein.
Obwohl Sinville eine riesige Stadt ist, spricht sich Qualität schnell herum. Mein Name ist in akademischen Kreisen kein Unbekannter mehr, und genau das erfüllt mich mit Stolz. Ich habe hart dafür gearbeitet, mir diesen Platz zu verdienen. Vom Waisenkind zur erfolgreichen Psychologin: Mein Weg war steinig, doch gerade deshalb ist er heute umso wertvoller für mich.
Heute stehe ich erneut in einem der imposanten Hörsäle der Universität von Sinville. Die hohen Fenster lassen das Sonnenlicht in sanften Strahlen auf die langen Tischreihen fallen, an denen etwa dreißig Studenten sitzen. Notizbücher und Laptops sind aufgeschlagen, Stifte in den Händen, Blicke erwartungsvoll auf mich gerichtet. Ein vertrautes Bild, eines, das mich jedes Mal aufs Neue mit Freude erfüllt.
Ich trete an die große, dunkelgrüne Tafel, auf der bereits ein paar Begriffe aus der letzten Vorlesung stehen, und nehme meine Brille ab, um sie sanft mit meinem Ärmel zu reinigen. Dann setze ich sie wieder auf und fahre mir mit einer geübten Bewegung durch das Haar, bevor ich mich den Studenten zuwende.
»Unsere Reihe wird heute fortgeführt«, beginne ich mit fester Stimme. »Es müsste die sechste Lektion sein, wenn ich mich nicht irre.«
Während ich spreche, greife ich nach einem Stück Kreide und notiere die neue Überschrift in schwungvoller Schrift an die Tafel. Leises Kratzen begleitet meine Bewegungen, gefolgt vom rhythmischen Klicken der Tastaturen und dem Kratzen von Stiften auf Papier.
Lächelnd setze ich mich schließlich auf das Pult, überschlage die Beine und lasse meinen Blick durch den Raum schweifen. Es ist immer wieder faszinierend zu beobachten, wie unterschiedlich meine Studenten lernen. Einige tippen eifrig, andere kritzeln kleine Notizen in den Rand ihrer Blätter, wieder andere lehnen sich zurück und hören einfach nur zu.
Mein Blick bleibt an einer bestimmten Ecke des Raumes hängen. Dort, wo sich Herr Georgery befindet. Oder genauer gesagt, wo er sich gerade mit seiner Sitznachbarin unterhält.
»Herr Georgery, kommen Sie bitte nach vorne«, sage ich mit einer Mischung aus Geduld und Strenge in der Stimme. »Ich spreche und Sie notieren die wichtigsten Punkte.«
Sofort schießt sein Kopf hoch, als wäre er gerade aus einem Tagtraum gerissen worden. Seine Gesprächspartnerin unterdrückt ein Kichern, während er mich kurz mustert, dann jedoch aufspringt. Mit einem schiefen Grinsen joggt er nach vorne ans Pult und stellt sich neben mich.
»Natürlich, Frau Laurel«, sagt er mit übertriebener Begeisterung. »Sie können direkt anfangen.«
Ich kann nicht anders, als zu schmunzeln. Seine charmante Art hat mich schon öfter amüsiert, auch wenn ich ihm das nicht allzu oft durchblicken lasse. Kopfschüttelnd lache ich leise, dann lehne ich mich etwas bequemer zurück. Die Vorlesung kann starten.
»Warum streben wir so sehr nach Anerkennung? Weshalb sind wir oft auf die Bestätigung unserer Mitmenschen angewiesen? Und vor allem: Wie können wir uns von dieser Abhängigkeit befreien? Genau diesen Fragen wollen wir heute auf den Grund gehen.«
Meine Stimme hallt durch den Hörsaal, während ich meinen Blick über die Reihen meiner Studenten schweifen lasse. Es ist ein komplexes, aber faszinierendes Thema, eines, das tief in unsere Psyche eingreift. Die meisten hier kennen das Gefühl nur zu gut, dieses Verlangen nach Bestätigung, nach Lob, nach dem Gefühl, gesehen und geschätzt zu werden.
Ich trete einen Schritt vor, schiebe meine Brille ein Stück höher auf die Nase und lehne mich leicht gegen das Pult.
»Schauen wir uns zuerst die Ursache an. Als soziale Wesen suchen wir nach Gemeinschaft, Zuneigung und einem ausgeglichenen Miteinander. Doch was passiert, wenn dieses natürliche Bedürfnis in eine Abhängigkeit umschlägt? Wenn unser Selbstwertgefühl nicht mehr aus unserem Inneren kommt, sondern ausschließlich von der Meinung anderer bestimmt wird?«
Ich lasse eine kleine Pause entstehen, um die Wirkung meiner Worte zu verstärken.
»Die Wurzeln dieser Sehnsucht nach Anerkennung reichen oft bis in unsere Kindheit zurück. In dieser prägenden Zeit waren wir vollkommen von unseren Eltern oder Erziehungsberechtigten abhängig, eine natürliche Bindung, die uns Schutz und Sicherheit bot. Doch diese Zuwendung war meist an bestimmte Erwartungen geknüpft.«
Ich gehe langsam durch den Raum und beginne, einige Beispiele aufzulisten, die viele hier vermutlich aus ihrer eigenen Kindheit kennen.
»Vor dem Essen mussten die Hände gewaschen werden. In der Schule galt es, gute Noten zu erzielen. Im Beisein von Erwachsenen wurde Höflichkeit verlangt. Und Widerworte gegenüber Älteren waren undenkbar.«
Ein leises Murmeln geht durch den Raum. Einige nicken, andere tauschen vielsagende Blicke aus. Ich kann an ihren Gesichtern ablesen, dass diese Situationen ihnen vertraut vorkommen.
Ich halte kurz inne, um ihnen Zeit zu geben, ihre Notizen zu vervollständigen. Währenddessen wandert mein Blick über meine eigenen Unterlagen. Ich vergewissere mich, dass ich meinen Faden nicht verliere, und als ich merke, dass die meisten wieder aufblicken, setze ich fort.
»Warum streben wir so sehr nach Anerkennung? Die Antwort liegt auf der Hand: Schon in jungen Jahren lernen wir, dass unser Verhalten bewertet wird. Wer Erwartungen erfüllt, wird gelobt. Wer sie nicht erfüllt, erfährt Kritik, sei es durch Ermahnungen, emotionale Distanz oder das schmerzhafte Gefühl, nicht gut genug zu sein. Dieser Mechanismus prägt uns ein Leben lang. Er treibt uns dazu an, uns ständig zu verbessern, uns mit anderen zu messen und immer wieder die Frage zu stellen: Bin ich gut genug? Kann ich noch besser sein?«
Ich lasse meinen Blick wieder über die Studenten schweifen und senke dann leicht die Stimme, um meine nächsten Worte eindringlicher wirken zu lassen.
»Jeder von uns hat wohl schon einmal schlaflos im Bett gelegen und über sich selbst nachgedacht. Was kann ich anders machen? Wie kann ich es schaffen, mehr Anerkennung, mehr Zuneigung oder mehr Aufmerksamkeit von meinen Eltern, Freunden, Kollegen oder meinem Umfeld zu erhalten?«
Einige meiner Zuhörer verschränken nachdenklich die Arme, andere kritzeln langsam mit ihren Stiften über ihre Blöcke, tief in Gedanken versunken.
»Besonders in Momenten der Einsamkeit sind diese Gedanken allgegenwärtig. Genau dann spüren wir, dass uns etwas fehlt«, fahre ich fort. »Und in dem Augenblick, in dem wir beginnen, uns mit anderen zu vergleichen, wird der Grundstein für die Abhängigkeit von Anerkennung gelegt.«
Ich atme tief durch und trete wieder näher ans Pult.
»Nun eine Bitte an Sie: Nennen Sie mir bitte fünf Beispiele, wie sich Kinder untereinander vergleichen. Arbeiten Sie zusammen, nehmen Sie sich gegenseitig dran.«
Während sich die Studenten in kleine Diskussionen vertiefen, greife ich nach meiner Wasserflasche und trinke einen Schluck. Die langen Vorträge sind anstrengend, aber es ist meine Aufgabe, mein Wissen weiterzugeben. Also rede ich weiter, für sie, für ihr Verständnis, für ihre Entwicklung.
Die Diskussionen werden lauter. Ich beobachte, wie einige sich gestikulierend austauschen, andere in Gedanken versunken an ihren Stiften kauen. Ein leises Lächeln umspielt meine Lippen. Sie denken nach. Genau das ist es, was ich erreichen wollte.
»Leon kann bereits mit vier Jahren flüssig lesen«, beginnt einer.
»Thomas kann sich schon mit fünf Jahren selbst die Schuhe binden«, führen sie fort.
»Nadja kann schon mit vier Jahren schwimmen.« Super.
»Sven fährt mit drei Jahren bereits sicher Fahrrad.« Richtig.
»Lisa beteiligt sich immer fleißig am Unterricht.«
Langsam stelle ich meine Wasserflasche zurück auf das Pult und lasse meinen Blick über die Gesichter meiner Studenten wandern. Sie sehen interessiert aus.
»Sehr gut«, sage ich schließlich und verschränke die Arme vor der Brust. »Seien Sie bitte ehrlich: Wer von Ihnen hatte solche oder ähnliche Gedanken in der Kindheit? Wer hat sich schon einmal mit anderen Kindern verglichen und sich dabei gefragt, ob er selbst gut genug ist?«
Ich hebe herausfordernd die Augenbrauen und lasse den Moment wirken.
Erst zögernd, dann fast synchron heben sich alle Hände im Raum. Ein leises Lachen geht durch die Reihen, einige tauschen schmunzelnde Blicke aus. Ich kann mir gut vorstellen, dass viele von ihnen genau solche Situationen kennen, in denen Eltern, Lehrer oder Verwandte voller Stolz von den Leistungen anderer Kinder erzählt haben, während man selbst daneben saß und sich unbewusst fragte, ob man nicht auch besser sein müsste.
»Ich danke Ihnen für Ihre Ehrlichkeit«, sage ich und winke amüsiert ab. »Sie können die Hände wieder herunternehmen.«
Es beruhigt mich, dass sie so offen mitmachen. Ehrlichkeit, vor allem mit sich selbst, ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, um sich persönlich weiterzuentwickeln. Und sie wird ihnen in der Zukunft viele Türen öffnen.
Ich gehe ein paar Schritte durch den Raum, dann bleibe ich vor der Tafel stehen und klopfe nachdenklich mit den Fingern gegen das Holz des Pultes.
»Der Vergleich mit anderen Menschen führt oft dazu, dass unser Selbstwertgefühl leidet«, erkläre ich und sehe in die Runde.
»Je stärker wir uns an den Leistungen anderer messen, desto größer wird das Gefühl, nicht genug zu sein. Und was passiert dann?«
Ich mache eine bedeutungsvolle Pause und senke leicht die Stimme.
»Das Bedürfnis nach Anerkennung wächst. Es wird ein fester Bestandteil unseres Lebens, oft ohne, dass wir es bewusst wahrnehmen.«
Mein Blick fällt auf den Studenten, der mit dem Schreiben an der Tafel nicht hinterherkommt. Seine Schrift ist auch nicht leserlich.
»Setzen Sie sich, Herr Gregory«, sage ich in freundlichem Ton. »Ich lade meine Notizen und Folien später für Sie alle hoch. So ist es, glaube ich, für jeden einfacher.«
Er sieht mich für einen Moment überrascht an, dann atmet er erleichtert aus und lässt sich auf seinen Stuhl zurücksinken. Einige seiner Kommilitonen werfen ihm grinsende Blicke zu, doch ich bin mir sicher, dass viele von ihnen insgeheim froh über diese Erleichterung sind.
»Kommen wir zu einem weiteren wichtigen Punkt.«
Mit fließenden Bewegungen zeichne ich eine große Tabelle, achte darauf, dass die Linien sauber und gleichmäßig sind.
»Welche Strategien nutzen Menschen, um ihr Bedürfnis nach Anerkennung zu befriedigen? Wie versuchen sie, die Aufmerksamkeit ihrer Mitmenschen auf sich zu ziehen?«
Ich lasse die Kreide in meiner Hand kreisen und drehe mich zu den anderen um.
»Denken Sie kurz nach. Sie kennen sicherlich viele Beispiele aus dem Alltag, vielleicht sogar aus eigener Erfahrung.«
Während die ersten sich melden und die Diskussion in Gang kommt, glätte ich unbewusst meinen Rock und trete einen Schritt zur Seite, um den Blick zur Tafel freizugeben.
»Übrigens«, füge ich hinzu, als mir ein Gedanke kommt. »Mir wurde zugetragen, dass sich viele von Ihnen in diesem Kurs auf Kinder- und Jugendpsychologie spezialisieren wollen. Deshalb beziehe ich mich in meinen Beispielen häufig auf jüngere Menschen. Wundern Sie sich also nicht, wenn ich besonders auf die Entwicklung im Kindesalter eingehe, sie ist schließlich die Grundlage für unser Verhalten im späteren Leben.«
Einige nicken verständnisvoll, andere lächeln leicht.
Ich drehe mich zurück zur Tafel und beginne, die ersten Begriffe in die Spalten einzutragen. Die Diskussion kann beginnen.
Ein leichtes Ziehen in meinem Kopf lässt mich innehalten. Zunächst ist es nur ein dumpfer Druck hinter meiner Stirn, doch ich weiß genau, was das bedeutet. Die ersten Anzeichen sind unverkennbar. Migräne.
Schnell laufe ich zu meiner Tasche, die neben dem Pult auf dem Boden steht, und wühle hastig darin herum. Meine Finger tasten zwischen Notizbüchern, Stiften und meinem Handy, bis ich endlich die kleine, vertraute Medikamentenpackung finde.
Mein Herz schlägt etwas schneller, vermutlich vor Anspannung. Ich habe noch so viel vor heute, da kann ich es mir nicht leisten, mit pochenden Schmerzen und verschwommenem Blick durch den Tag zu stolpern.
Mit geübten Handgriffen öffne ich die Packung und breche eine Tablette in zwei Hälften. Eine lege ich mir vorsichtig auf die Zunge, doch ich muss mich beeilen, bevor sie sich dort auflöst und diesen widerlichen, bitteren Geschmack hinterlässt.
Hastig greife ich nach meiner Wasserflasche, setze sie an die Lippen und spüle die Tablette mit großen Schlucken hinunter. Ich atme tief durch. Hoffentlich wirkt sie schnell.
»Tut mir leid«, sage ich verlegen, während ich meine Brille wieder zurechtrücke und mich aufrichte.
Mein Blick wandert über die Studenten, die mich aufmerksam beobachten. Einige wirken besorgt, andere warten geduldig darauf, dass ich fortfahre.
»Diese Migräne macht mich irgendwann noch verrückt.«
Ich zwinge mich zu einem kurzen Lächeln, dann drehe ich mich wieder zur Tafel. Ich klopfe zweimal mit der Kreide gegen die Tafel, um die Aufmerksamkeit zurück auf den Unterricht zu lenken.
»Also, wo waren wir? Ah, genau.«
Mit schwungvollen Bewegungen schreibe ich den nächsten Begriff an die Tafel.
»Der Klassenclown«, beginne ich, während ich mich zur Klasse umdrehe, »ist jene Person, die mit ihren Späßen und Kommentaren die Lehrer an den Rand der Verzweiflung bringt. Er unterbricht den Unterricht, macht Witze auf Kosten anderer und sorgt für Heiterkeit. Genau das verschafft ihm die Sympathie seiner Mitschüler.«
»Warum? Weil gemeinsames Lachen verbindet. Wer andere zum Lachen bringt, wird automatisch als angenehm empfunden.«
Doch hinter diesem Verhalten steckt mehr als bloßer Spaß oder kindliche Unbeschwertheit, es ist eine bewusste Strategie. Der Klassenclown nimmt eine bestimmte Rolle ein, um sich Anerkennung und Zugehörigkeit in der Gruppe zu sichern.
Ich lasse den Satz wirken, dann schreibe ich den nächsten Begriff an die Tafel.
»Der Rebell«, sage ich mit einem leichten Schmunzeln, »ist eine faszinierende Persönlichkeit. Er ist derjenige, der sich bewusst gegen Regeln stellt und aus festgelegten Mustern ausbricht.«
Stellen wir uns eine Szene vor: Ein Teenager kommt nach Hause und präsentiert sich mit knallroten Haaren, Lederjacke und bunten Stiefeln. Der überraschte Ausdruck in den Gesichtern der Eltern wäre wohl unbezahlbar.
Ein paar Studenten lachen leise.
»Der Rebell sucht gezielt die Provokation. Doch warum tut er das? Weil er auf diese Weise Aufmerksamkeit erregt. Sein Selbstbild entsteht im Gegensatz zu den Erwartungen, die an ihn gestellt werden.«
»Seine Botschaft ist unmissverständlich: Ich entspreche nicht euren Vorstellungen. Ich gehe meinen eigenen Weg. Und genau durch diese Abgrenzung gewinnt er Anerkennung.«
Ich wende mich erneut der Tafel zu und schreibe den letzten Typen auf.
»Zu guter Letzt haben wir den Opportunisten«, fahre ich fort. »Der Opportunist verfolgt eine völlig andere Strategie als der Rebell oder der Klassenclown. Er sucht weder die Aufmerksamkeit durch Witze noch durch Widerstand. Stattdessen geht er den entgegengesetzten Weg: Er passt sich an.«
»Statt seine eigene Meinung offen zu äußern, richtet er sich nach den Erwartungen seines Umfelds, sei es die Familie, die Lehrer oder später der Arbeitgeber. Er vermeidet es, aufzufallen, und scheut Konflikte. Doch warum? Weil er erkannt hat, dass ihm Anpassung die größte Anerkennung sichert.«
Ich lege die Kreide beiseite und streife mir eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Drei völlig unterschiedliche Typen, doch sie haben eine entscheidende Gemeinsamkeit: ihre Sucht nach Anerkennung.«
Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen. Es ist still geworden. Viele der Studenten scheinen über meine Worte nachzudenken. Das ist gut.
»Doch hier kommt das Problem: Diese Verhaltensweisen machen uns unfrei«, sage ich mit ernster Stimme. »Wir sind dann nicht mehr wir selbst, sondern nur noch die Version, von der wir glauben, dass sie am meisten Anerkennung erhält. Doch wer sind wir eigentlich, wenn wir uns nicht mehr nach der Bestätigung anderer sehnen? Wer sind Sie, wenn Sie sich nicht mehr fragen: Gefällt das den anderen? Oder werde ich dafür geliebt?«
Ich verschränke die Arme.
»Und genau das ist Ihre Hausaufgabe.«
Ein paar Köpfe heben sich, einige Stifte werden zur Seite gelegt. Die meisten ahnen vermutlich schon, dass das keine einfache Aufgabe wird.
»Ich möchte, dass Sie sich mit sich selbst auseinandersetzen«, erkläre ich ruhig. »Wer sind Sie, wenn Sie keine Anerkennung mehr brauchen? Wer sind Sie wirklich?«
Eine sehr tiefgründige Frage, die sich jeder stellen sollte.
»Sie haben mindestens zehn und maximal zwanzig Seiten Zeit, um das herauszufinden. Schreiben Sie ehrlich, schreiben Sie reflektiert. Es gibt kein richtig oder falsch.«
»Aber ich verspreche Ihnen eines: Diese Aufgabe kann Ihnen mehr über sich selbst beibringen als jede Theorie, die wir hier besprechen werden.«
Langsam mustere ich die Klasse und sehe, wie einige bereits nachdenken, andere sich Notizen machen.
Vielleicht sehen einige von Ihnen diese Hausaufgabe als Last, als eine Qual, die ihnen zusätzliche Arbeit aufbürdet. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall. Ich will Ihnen helfen, nicht mit Fakten, nicht mit bloßen Theorien, sondern mit einer Frage, die Sie sich selbst viel zu selten stellen: Wer bin ich wirklich?
Sie werden es vielleicht erst später begreifen, vielleicht erst beim Schreiben, wenn sie die ersten Zeilen aufs Papier bringen und merken, wie schwer es ist, sich selbst in Worte zu fassen. Doch spätestens dann wird ihnen klar werden, warum diese Aufgabe so wichtig ist.
Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen. Die meisten Studenten sind noch in Gedanken versunken, einige kritzeln gedankenverloren in ihre Notizbücher.
Dann hebt sich langsam eine Hand aus der letzten Reihe. Ich nicke der Studentin aufmunternd zu.
»Ja, bitte?«
Sie nickt mir kurz dankbar zu.
»Wie kann man die Sucht nach Anerkennung besiegen?«, fragt sie mit ruhiger, aber ernster Stimme.
Eine gute Frage. Eine, die sich viele stellen, bewusst oder unbewusst.
»Bevor wir unsere Sucht nach Anerkennung überhaupt bekämpfen können, müssen wir sie zuerst erkennen«, beginne ich. »Alles beginnt mit der Selbsterkenntnis.«
»Wir müssen uns bewusst machen, wie sehr wir auf die Bestätigung durch andere angewiesen sind, sei es von Eltern, Freunden, Kollegen oder der Gesellschaft. Diese Einsicht ist entscheidend, denn ohne sie verharren wir in einem endlosen Kreislauf aus Anpassung und Unsicherheit«, erkläre ich den Studenten gestikulierend.
»Sobald wir unsere eigene Abhängigkeit von Anerkennung erkennen, legen wir den Grundstein dafür, unser wahres Potenzial zu entfalten. Doch genau an diesem Punkt stößt uns ein Hindernis entgegen: die Angst. Sie ist es, die uns bremst, die Angst vor Zurückweisung, die Furcht, nicht auszureichen, die Sorge, nicht mehr geliebt oder geschätzt zu werden, wenn wir aufhören, uns den Erwartungen anderer anzupassen.«
Ich blicke in die Runde. Einige Studenten nicken nachdenklich, andere starren auf ihre Blätter, als würden sie versuchen, meine Worte direkt auf ihr eigenes Leben zu übertragen.
»Wir alle tragen diese Angst in uns«, fahre ich fort. »Unsere größte Angst ist es, kritisiert oder zurückgewiesen zu werden.«
»Diese Angst hält uns oft davon ab, unseren eigenen Weg zu gehen und zu uns selbst zu stehen. Wir passen uns an, um Konflikte zu vermeiden, um geliebt und akzeptiert zu werden. Doch genau darin liegt das Problem: Je mehr wir uns verbiegen, desto weiter entfernen wir uns von unserem wahren Selbst. Wenn Sie echte Freiheit erfahren möchten, müssen Sie lernen, Ihre eigene Wahrheit zu leben, kompromisslos und ohne ständige Angst vor Ablehnung. Das bedeutet, sich nicht länger nach den Erwartungen anderer zu richten, sondern nach eigenen Werten und Überzeugungen zu handeln.«
»Das ist nicht immer leicht. Es erfordert Mut, besonders in Momenten, in denen Widerstand oder Unverständnis auf Sie zukommen. Doch genau in diesen schwierigen Situationen zeigt sich, wie stark Sie wirklich sind. Denn wahre Freiheit beginnt dort, wo Sie aufhören, Bestätigung im Außen zu suchen und Sie anfangen, Ihnen selbst genug zu sein.«
Ich richte mich wieder auf, trete einen Schritt nach vorne und sehe jeden Einzelnen nacheinander an.
»Legen Sie Ihren Fokus auf Ihre Stärken«, sage ich eindringlich. »Definieren Sie sich nicht über Ihre Schwächen. Schwächen hat jeder. Ohne Ausnahme. Doch wenn Sie sich darauf konzentrieren, was Sie stark macht, was Sie einzigartig macht, dann brauchen Sie keine äußere Bestätigung mehr. Dann reicht es, dass Sie sich selbst genügen.«
Ich lasse diese letzten Worte bewusst im Raum stehen. Es ist still. Keine Stifte kratzen mehr über Papier, keine geflüsterten Gespräche stören den Moment.
Ich werfe einen kurzen Blick auf die Uhr.
»Damit beenden wir den Unterricht für heute«, sage ich schließlich und greife nach meinen Unterlagen.
Die Stühle rücken, es entsteht ein leises Gemurmel, während die Studenten ihre Sachen zusammenpacken. Doch anders als sonst wirkt die Stimmung heute nachdenklicher. Einige scheinen noch mit sich selbst zu ringen, andere tauschen leise Blicke aus.
Zufrieden trete ich einen Schritt zurück.
Manchmal sind es nicht die Antworten, die uns weiterbringen, sondern die richtigen Fragen.
*
Nachdem ich meine Unterlagen zusammengepackt habe, werfe ich noch einen letzten Blick durch den Vorlesungssaal. Die Stühle stehen nicht mehr in perfekter Ordnung, einige Tische sind mit Notizblättern übersät, und das leise Murmeln der letzten Studenten hallt noch zwischen den Wänden wider. Ein Lächeln huscht über meine Lippen, ein Zeichen für einen erfolgreichen Unterricht. Ich schiebe meine Brille zurecht, schlinge meinen Schal enger um meinen Hals und trete durch die große Flügeltür hinaus auf den Gang. Das gedämpfte Geräusch meiner Absätze auf dem glänzenden Boden begleitet mich, als ich zielstrebig Richtung Ausgang laufe.
Plötzlich spüre ich eine sanfte Bewegung neben mir, gefolgt von einer warmen Stimme, die mir leise ins Ohr flüstert: »Der Rock steht Ihnen aber sehr gut, Frau Laurel.« Ein wohliges Kribbeln breitet sich in mir aus, als ich die vertraute Stimme erkenne. Ich drehe mich leicht zur Seite und treffe auf Joels verschmitztes Lächeln. Seine Augen funkeln verspielt, während er mich mit diesem typischen Ausdruck ansieht, einem Ausdruck, den ich nur zu gut kenne.
»Danke schön«, erwidere ich und fahre mit der Hand sanft über den weichen Stoff meines Rocks. »Dieser Rock war ein Geschenk von jemand ganz Besonderem.« Joel legt seinen Kopf leicht schief und hebt amüsiert eine Augenbraue. »Ich würde gern wissen, wer dieser tolle Kerl ist«, sagt er grinsend. Ich lache leise und schenke ihm einen schnellen Kuss auf die Lippen. Trotz der Monate, die wir bereits miteinander verbringen, fühlt sich jede Berührung zwischen uns noch immer wie ein sanfter Stromstoß an. »Komm, wir gehen«, sage ich schließlich, und wir setzen uns gemeinsam in Bewegung.
Draußen erwartet uns die frische Abendluft. Die Sonne geht langsam unter und taucht den Himmel in ein warmes Orange, während die kühle Brise durch die Straßen von Sinville weht. Als wir Joels Auto erreichen, hält er plötzlich inne. »Ich habe eine Überraschung für dich«, beginnt er geheimnisvoll und öffnet die Autotür für mich. »Eher gesagt für Tiara.« Überrascht bleibe ich stehen und sehe ihn fragend an. »Was für eine Überraschung?«, erkundige ich mich neugierig. Er legt sanft seine Hände an meine Wangen und sieht mich mit einer Zärtlichkeit an, die mein Herz zum Schmelzen bringt. Dann drückt er mir einen liebevollen Kuss auf die Stirn.
»Am Wochenende fahren wir zusammen in den Zoo«, sagt er mit sanfter Stimme. »Tiara liebt Tiere, und da sie gerade Behandlungspause hat, können wir zu dritt dorthin gehen.« Seine Worte treffen mich unerwartet tief. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, und für einen Moment bleibt mir die Luft weg. »Du hast es dir gemerkt?«, frage ich mit leicht zittriger Stimme. Verwundert runzelt Joel die Stirn. »Liyana, natürlich habe ich das«, sagt er und nimmt meine Hände in seine. »Tiara ist mir längst ans Herz gewachsen. Schließlich ist sie deine Tochter. Ich wollte schon länger etwas mit euch unternehmen. Und jetzt, wo sie keine Behandlung bekommt, können wir das endlich tun.«
Ich kann nicht anders, meine Augen brennen, und ich spüre, wie sich meine Kehle zuschnürt. Ohne ein weiteres Wort lege ich meine Sachen beiseite und schlinge meine Arme fest um ihn. Joel ist der erste Mann, der mich und Tiara so akzeptiert, wie wir sind.
Als alleinerziehende Mutter ist es ohnehin schon schwer, jemanden zu finden, der sich nicht von der Verantwortung abschrecken lässt. Doch wenn man dann noch so viel arbeitet wie ich, wird es fast unmöglich. Männer verlieren schnell das Interesse, sobald sie merken, dass ich nicht die Zeit und Energie für ein normales Leben habe. Die meisten wollen eine unkomplizierte, sorgenfreie Beziehung, eine Frau ohne Verpflichtungen. Aber Joel … Joel ist anders. Er hält mich nicht auf Abstand, sondern zieht mich näher zu sich. Er stellt keine Bedingungen, sondern gibt mir das Gefühl, dass ich so, wie ich bin, genug bin.
»Danke«, flüstere ich an seiner Brust. Er streicht mir beruhigend über den Rücken.
»Da gibt es nichts zu danken«, erwidert er sanft. »Sag du mir lieber, was es heute zu essen gibt.«
Ich lache leise und löse mich von ihm. »Was willst du denn gern essen?«, frage ich mit hochgezogener Augenbraue. Er grinst schelmisch. »Da fällt mir so einiges ein«, sagt er bedeutungsvoll und legt seine Hände spielerisch um meine Taille.
Gerade als ich eine freche Antwort darauf geben will, ertönt plötzlich eine laute Stimme aus der Nähe: »Frau Laurel, ich will ungern sehen, wie Sie miteinander rummachen!«
Ich drehe mich abrupt um und entdecke einen meiner Studenten, der mit verschränkten Armen ein amüsiertes Grinsen auf den Lippen hat. Einige seiner Freunde stehen hinter ihm und versuchen, ihr Kichern zu unterdrücken.
Bevor ich darauf reagieren kann, übernimmt Joel für mich das Wort. »Das sagst du nur, weil du niemanden hast, mit dem du rummachen kannst«, kontert er trocken.
Lautes Gelächter bricht aus. Der Freund meines Studenten klopft ihm schadenfroh auf die Schulter. »Der war gut, Herr Faxon!«
Ich schüttle lachend den Kopf und greife nach meiner Tasche. »Komm«, sage ich an Joel gewandt, »wir müssen noch einkaufen, bevor wir Tiara von der Schule abholen.« Er nickt grinsend, schließt die Beifahrertür für mich und geht zur Fahrerseite.
Während wir losfahren, gleiten meine Gedanken immer wieder zu Tiara. Ich kann es kaum erwarten, ihr von unserem Plan zu erzählen. Ihr strahlendes Lächeln zu sehen, wenn sie erfährt, dass wir zusammen in den Zoo fahren. Und vor allem zu sehen, wie sehr sie Joel bereits in ihr Herz geschlossen hat.
Ayla Öztürk - AYOEZ
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